FANSTORY 9.0 - Das letzte Kapitel

  • Wind rüttelte an den Fenstern, der Regen peitschte gegen die Scheiben und über den mit tiefschwarzen Wolken behangenen Himmel zuckten Blitze. Es war erst früher Nachmittag, aber dennoch war es durch das Gewitter so dunkel, dass man im Haus die Lichter anschalten musste, um mehr als graue Schatten erkennen zu können.
    Ich stand am Fenster und blickte hinaus, auf die regennassen Dächer der Stadt, über denen das Gewitter wütete.
    "Wir müssen das nicht tun." murmelte E36, der seit einer ganzen Weile unruhig am Konferentisch in der Mitte des Raumes unruhig auf und ab marschierte, die Hände hinter dem Rücken verschränknt und mit todernster Miene im Gesicht.
    "Doch, alter Freund. Ich muss es."
    "Hmmm. Okay. Wieso?!"
    "Ich fühle mich dazu verpflichtet."
    E36 schnaubte und schüttelte den Kopf, dann blieb er stehen und blickte mich an.
    "All die Jahre, und es lässt dir immer noch keine Ruhe, was?"
    "Ich habe mich nie richtig verabschiedet. Unser letztes Abenteuer war so unglaublich spannend, aber ich habe es trotzdem noch nicht fertig geschrieben."
    "Nach all den Jahren. Ich fand die niedergeschriebenen Versionen unserer Erlebnisse sowieso immer viel zu sehr auf dich bezogen. So, als wärst du der absolute Held... total im Stil von Stirb Langsam" murmelte E36 und wir grinsten.
    "Ein bisschen vielleicht, ja. Aber ich..."
    Schritte näherten sich auf dem Flur, ich unterbrach meine Antwort und blickte wieder aus dem Fenster.
    "Da kommt sie." stellte E36 noch fest, dann wurde die Tür geöffnet und mehrere Personen betraten den Raum.
    Stille, in der man nur das Atmen der anwesenden Personen hörte. Ich zählte vier Männer und eine Frau.
    "E36, was... Marcus?!"
    Überraschung schwang in AnnaSophias Stimme mit und ich musste lächeln. So lange hatte ich sie nicht mehr gehört. Aber das Kribbeln von damals war verschwunden. Damals, vor inzwischen sechs Jahren. Ich stützte mich mit meiner linken Roboterhand auf das Fenstersims und drehte mich langsam um.
    "AnnaSophia. Es ist verdammt lange her..."
    Die Junge Frau starrte mich einen Moment an, dann marschierte sie auf mich zu und verpasste mir eine schallende Ohrfeige.
    "Ich nehme an, du weißt, wofür die war?!" zischte sie und ihre Augen funkelten mich an.
    "Ich glaube schon, ja. Autsch..."
    "Und du, E36..."
    "Nein, bitte, ich..."
    Eine zweite Ohrfeige klatschte durch den Raum und der Mann jaulte in unerträglich hohen Tönen auf. Ich wusste gar nicht, dass er ein Sopran war.
    "Ich glaube, ihr zwei seid mir eine Erklärung schuldig."
    "Deswegen sind wir hier." erklärte ich und rieb mir die glühende Wange. Verdammt, sie hatte eine starke Rechte! AnnaSophia war inzwischen eine erwachsene, junge Frau. Wie wir alle inwzischen erwachsen waren, die damals die ASRSG ins Leben gerufen hatten.
    Langsam ging ich an ihr vorbei, zog drei Stühle vom Konferenztisch weg und setzte mich. AnnaSophia und E36 folgten meinem Beispiel und setzten sich mir gegenüber.
    "Es ist lange her." murmelte sie schließlich und blickte in die Runde.
    "Das letzte mal am 24. Oktober 2011."
    "Und wieso bist du jetzt hier? Nach dieser langen Zeit? Denkst du, ich habe die ganze Zeit über untätig auf dich gewartet?"
    "Nein, ich..."
    "Du bist vor meinen Augen von einem Dach gestürtzt!"
    "Ich weiß, ich.."
    "Ich dachte, du wärst tot!"
    "Es war nicht mein bester Abgang bisher, da sind wir uns einig. Ich..."
    "Ich habe dich geliebt!"
    "Ich weiß. Ich dich auch. Damals."
    Betretenes Schweigen machte sich breit, in dem AnnaSophia mich vorwurfsvoll anstarrte.
    "AnnaSophia, ich bin hier ... nein, wir sind hier, um uns vernünftig von dir zu verabschieden. Keine Zwischenfälle diesmal. Wir wollen nur die alten Geschichten klären."
    Sie schnaubte skeptisch und ihr Blick sprang zwischen mir und E36 hin und her.
    "Ich bin ganz Ohr. Dann erzählt mal, ihr zwei Helden."
    "Also, wir haben diesen Abgang gemacht und... naja..."
    "Jaaaaa?"
    "Als wir die ASRSG gegründet haben, war ich ein Außenseiter. Sozial isoliert, ich hatte Probleme mit meinen Klassenkameraden. Aber ich habe im Oktober 2011 da jemanden kennen gelernt, der mich... aufgebaut hat. Damals. Im Sommer stand das Abitur vor der Tür. Ich habe gebüffelt und bestanden, aber danach ging es dann direkt weiter mit meiner Ausbildung und diesem unheimlich dummen Chef. Dann kam die Uni... ich habe jetzt einen Job, ein Auto, Freunde... ein anständiges Leben."
    "Aber du hattest doch die ASRSG. Das war deine Familie, das waren deine Freunde. Die Leute, mit denen du so viel erlebt und durchgestanden hast. Wir hatten uns!"
    "Nein, AnnaSophia. Wir hatten uns nicht. Das mit uns wäre nie etwas geworden. Ich meine... sieh mich an. Ich war ein siebzehnjähriger Soziophobikier. Das... nein."
    Die junge Frau blickte mir tief in die Augen. Ein leichter Schauer lief mir über den Rücken, aber sonst war da nichts. Keine Gefühle, keine Emotionen. Nicht für sie.
    "Die Zeiten haben sich geändert, AnnaSophia. Ich lebe nicht mehr in der Welt, in der du meine Hilfe brauchst. Ich lebe jetzt in der Realität. Das ist besser so."
    "Und unsere gemeinsamen Erlebnisse?"
    "Werden immer hier drinn sein."
    Ich deutete auf meinen Kopf und lächelte.
    "Bereust du es? Das, was wir gemeinsam erlebt haben?"
    Ich schüttelte den Kopf.
    "Nein. Keine Sekunde. Ich habe während dessen gelernt, dass das Leben in Träumen sehr viel gefährlicher und nicht halb so aufreged ist, wie die Realität. Und wenn ich einmal wieder mehr Zeit habe, werde ich unsere Erlebnisse fertig erzählen. Vielleicht."
    AnnaSophia lächelte und eine Träne lief ihr über die Wange, dann nickte sie.
    "Mach das."
    Wir standen auf und AnnaSophia blickte mich einen Moment lang intensiv an, dann trat sie zögerlich nach vorne und gab mir einen Kuss auf die Wange.
    "Erzähl der Welt unsere Geschichte zu Ende. Irgendwann. E35, mein Kämpfer und Retter."
    Sie zwinkerte mir zu, dann ging sie am Konferenztisch vorbei zu den vier Bodyguards, die am Eingang gewartet hatten und verschwand mit ihnen durch die Tür.
    E36 blickte ihr nach und verzog das Gesicht.
    "Wieso bekommst immer du die Küsse? Und wieso hat sie sich von mir überhaupt nicht verabschiedet? Warum war ich eigentlich dabei, wenn ich überhaupt nichts sagen durfte?!"
    Ich lächelte und schlug ihm auf die Schulter.
    "Ich brauchte dich nur für die Einleitung, alter Freund. Während des Gespräches hättest du nur gestört und ich hätte mir für dich auch noch etwas ausdenken müssen. Und was die Verabschiedung betrifft... den Kuss kannst du auch haben, wenn du willst."
    "Hä?! Wie das?"
    "Es ist nur eine Frage der Vorstellung. Wie war der Titelsong von 'Brücke nach Terabithia' noch gleich?"
    "Keep your mind wide open."
    "Genau. Lass deiner Fantasie freien Lauf."